Offener Brief an einen Schüler:

Demo FFF Strade

Lieber Moritz,

Du hast dich gewundert, sagt mir deine Mutter, dass ich gerne in den Urlaub fliege. Wo ich doch immer zu den Klimademos komme. Aha! Erwischt!

Ich finde es toll, dass es dir auffällt, und dass du nachfragst. Es hat mir zu denken gegeben. Nicht zum ersten Mal, das nicht. Aber es ist gut, sich immer wieder erneut zu überlegen, ob das eigene Handeln dem entspricht, was man von andern, von der Politik und der Gesellschaft, fordert.

Ich denke, es gibt wenige von uns Erwachsenen, die Fridays for Future unterstützen, die sich das nicht öfters gefragt haben. Mich hat das Foto von dem Mädchen, das sich alleine im Protest für das Klima vor das Parlament in Stockholm setzt, erschüttert. Und Millionen andere auch. Und so entstand eine weltweite, friedliche Bewegung. Los marschieren war leicht, es kamen ja so viele mit. Und immer wieder hörte man die Aussage: “Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich nicht alleine bin.”

Nach der Begeisterung kamen, auf leisen Sohlen, die Zweifel. Kann ich das denn, so wie Greta sich das vorstellt? Ist mein Leben wirklich klimafreundlich? Das ist eine grundsätzliche Frage. Und es ist wichtig, sich gründlich damit auseinanderzusetzen:

Ich könnte mir zum Beispiel einen Heiligenschein aufsetzen und behaupten, dass alles so oder so funktionieren MUSS. Und mich mit erhobenem Zeigefinger als Leitfigur aufspielen, der alle folgen sollten, um den Planeten zu retten. In der Politik findet man solche Menschen leider. Zum Glück sind es nicht viele in der Welt jener, die zum Aufbau einer besseren Welt beitragen möchten. Denn in jener neuen Welt, von der wir träumen, steht Zusammenarbeit an erster Stelle.

Wenn ich also nicht überzeugt bin von der Unfehlbarkeit meines Handelns, was dann? Wir kämpfen alle mit Selbstzweifeln. Die treffen uns in jedem Alter, das geht nicht vorbei mit dem Erwachsen werden. Man lernt nur, besser damit umzugehen - oder sie besser zu verdrängen.

Verdrängen ist aber keine Lösung. Denn Selbstzweifel des Einzelnen schwächen auch die ganze Bewegung. Ich muss mich der Frage stellen und versuchen, für mich eine Antwort zu finden. Warum das wichtig ist erklärt Paula Golinsky von FFF Buxtehude im Interview (https://wikistade.org/klimawochen-lk-stade-2/214-interview-fridays-for-future-buxtehude): Sie hat MitschülerInnen, die kommen nicht an die Demo, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. “Ich fahre mit dem Auto in die Schule,” sagen sie dann, oder “ich fliege doch auch nach Mallorca”.

Da treffen wir den Kern der Frage: das Problem, sagt Paula, ist nicht individuell, es ist systemisch. Das heißt, das System funktioniert nicht richtig, um den Klimawandel stoppen zu können.

OK, aber was bedeutet das für mich, ganz konkret? Mein Handeln kann ich alleine bestimmen. Aber stehe ich nicht machtlos vor dem „System” - vor Wirtschaft, Politik, der ganzen Gesellschaft?

Fangen wir an mit dem Individuellen. Das scheint einfacher zu sein, denn jeder entscheidet für sich, wie viel sie oder er tun kann und will. Ich habe eine Nichte in Holland, die ist noch nie geflogen. Sie lebt vegetarisch und führt einen Bio-Gemüsebetrieb. Ich bewundere das. So viel schaffe ich selber nicht, das gebe ich gerne zu. Meine Söhne und Enkelin leben in Katalonien, die besuche ich jetzt umso lieber nach der Corona-Zwangspause. Dann kommen die Faktoren Zeit und Geld ins Spiel. Mit der Bahn nach Barcelona kostet es drei- bis viermal so viel als mit dem Flugzeug.

Also was tun, wenn man fliegen möchte? Da gibt es das Argument “ist ja nicht so schlimm,” das ich von meinem Kumpel in der Reisebranche höre: Nur zwei Prozent der CO2 Emissionen werden vom Flugverkehr verursacht (3,5 Prozent wenn man alle indirekten klimaschädlichen Folgen mitrechnet) (https://de.globometer.com/flugzeug-co2-emission.php). Ist ja nicht viel, könnte man meinen. Natürlich versauen große Industrien mehr. Aber zwei Prozent entspricht dem Anteil von Deutschland insgesamt. Das ist nicht wenig. Und in der Klimakrise wiegt jeder Beitrag schwer.

Ich bin also hin-und-her gerissen zwischen dem Wunsch, irgendwo hin zu kommen und dem ebenso starken Wunsch, mein Reisen umweltverträglicher zu machen. Das ist ein Konflikt, wie wir ihn alle mehr oder weniger erleben.

Bislang schaffe ich es nicht, auf das fliegen zu verzichten. Also tröste ich mich mit Ablasshandel. Das ist etwas, wogegen sich Martin Luther aufgelehnt hat: die Katholische Kirche erließ ihren Schäfchen ihre Sünden – gegen Spenden. Heute gibt es das nicht mehr. Und doch ist es ähnlich, heißt nun “kompensieren”: Ich zahle je nach Flugstrecke einer Organisation eine Summe, die diese investiert in klimafreundliche Projekte (https://www.atmosfair.de/de/kompensieren/flug/). Es ist schön, dann in der Zeitung zu lesen, dass die damit im Emsland eine Versuchsanlage zur Produktion von “grünem Wasserstoff” gebaut hat. Ein Beispiel, ein Pflaster auf der Wunde.

An einzelnen Problemen und dem Bemühen, damit umzugehen, lerne ich auch, toleranter zu werden. Keine und keiner kann von sich behaupten, perfekt zu sein. Es hat keinen Sinn, dem Cayenne-Fahrer Vorwürfe zu machen. Ich belächele ihn, für mich. Aber Menschen, die glauben, sie brauchen so ein Gerät, um glücklich zu sein, kann man nur durch das Beispiel eines besseren Lebens berühren. Moral predigen hat noch niemanden umgestimmt.

Und so kommen wir zum “systemischen”. Ein großes Problem beim Fliegen ist das steuerfreie Kerosin, also Flugbenzin. Das stammt aus einer Zeit, in der man Flugverkehr fördern wollte. Heute ist es nicht nur widersinnig, es ist Irrsinn. Umweltverbände plädieren schon lange dafür, diese Vergünstigung zu stoppen.

Hier liegt der Knackpunkt: Ich befürworte die Aufhebung der Subvention von Kerosin, auch wenn das die Flüge zu meinen Söhnen teurer macht. Für die Subvention zu sein, würde mich zum Heuchler machen. Ich bin im Konsumverhalten nicht perfekt, damit habe ich gelernt zu leben. Aber beim politischen Engagement will ich prinzipientreu sein.

Denn das politische Engagement ist die Hauptfrage. Alle vier Jahre wählen reicht dafür nicht aus. Die Gesellschaft ist zu komplex geworden, Parlamente können nicht alle Probleme im Sinne der Bevölkerung lösen. Allzusehr ist die Politik dem Druck des Geldes, der Lobbys, ausgesetzt. Und allzu oft entscheidet die Verwaltung zugunsten gut organisierter Teile der Bevölkerung, vor allem der Wirtschaft-Lobbys.

Es gibt aber genügend Stellen, um sich einzubringen, auch wenn man nicht in die Parteipolitik einsteigen möchte. Von Müll-Sammel Aktionen in Schule oder Gemeinde über spontan entstehende Bürgerinitiativen bis zu den großen Umweltverbänden. “Global denken und lokal handeln” ist ein beliebtes Schlagwort, also schaue ich am besten um mich herum: was gibt es zu tun? Und mit wem möchte ich das zusammen machen?

Müll trennen, recyclen, den Verbrauch mindern – all das ist heute selbstverständlich. Und es ist gut. Gleichzeitig sollten wir aber wissen, dass die ganze Diskussion über unseren “Fußabdruck” - d.h. wie viel man selber die Umwelt belastet – eine Erfindung der Werbeleute eines Erdölkonzerns ist. Die glauben, dass wir sie in Ruhe lassen, wenn wir uns mit uns selber befassen. Das klappt auch zum Teil. Denn wenn wir uns mit schlechtem Gewissen belasten, weil wir ja nicht perfekt sind, und vor lauter CO2-Rechnerei das große politische Bild vergessen, dann haben die Ölkonzerne gewonnen. Wir müssen lernen, damit zu leben, dass wir nicht perfekt sind und uns überall dort einsetzen, wo wir auf das System einwirken können: Inlandsflüge verbieten etwa oder Kerosin-Subventionen abschaffen.

Also, lasst uns alle weiter Müll trennen und weniger Fleisch essen und Blumenwiesen pflanzen und mit dem Fahrrad in die Schule oder zur Arbeit fahren. Und lasst uns auch versuchen, nachhaltiger zu reisen. Wenn wir dabei merken, dass dies alleine es doch nicht bringt, dann verlieren wir auf keinen Fall den Mut. Nein, alleine können wir die Welt nicht retten. Wir sind aber nicht alleine. Unzählige Bewegungen bringen uns zusammen, auch wenn sie gerade alle etwas Corona-geschädigt sind. An sich selbst arbeiten und sich mit anderen für ein bessere Umwelt einsetzen: beides ist gleich wichtig. Wir dürfen uns vor allem nicht entmutigen lassen.

Aber es ist gut, dass du gefragt hast, lieber Moritz, du hast mich angeregt, wieder einmal darüber nachzudenken. Es tut mir Leid, dass ich es noch nicht schaffe, ganz auf das Fliegen zu verzichten.

Walter